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Darf der Chef wegen Verdachts auf sexuelle Belästigung kündigen?

Die Kündigungsfreiheit umfasst auch das Recht der Arbeitgeberin, bei einem Verdacht auf sexuelle Belästigung zu kündigen. Hat sie die Vorwürfe intern genügend abgeklärt, ist die Kündigung nicht missbräuchlich. Dies hat das Bundesgericht mit Urteil vom 19. Januar 2024 bestätigt.

Jede Vertragspartei kann ein unbefristetes Arbeitsverhältnis ordentlich kündigen, sofern sie die gesetzliche oder vertragliche Kündigungsfrist einhält. Entschädigungspflichtig wird die Arbeitgeberin nur dann, wenn die Kündigung missbräuchlich war. Eine Kündigung ist nicht bereits dann missbräuchlich, wenn die Arbeitgeberin in der internen Untersuchung die für die Strafbehörden verbindlichen Verfahrensrechte nicht einhält.

Mann erhält Kündigung nach Vorwurf der sexuellen Belästigung

Auf Meldung einer Mitarbeiterin hin untersucht die Arbeitgeberin Vorwürfe gegen einen Kadermann wegen sexueller Belästigung und kündigt ihm knapp zwei Monate später ordentlich. Nach einem erfolglosen Schlichtungsversuch klagt der gekündigte Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeberin. Er verlangt eine Zeugnisänderung und eine Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung. Das Arbeitsgericht verpflichtet die Arbeitgeberin, das Arbeitszeugnis anzupassen, weist aber die Klage wegen missbräuchlicher Kündigung ab. Dagegen erhebt der Arbeitnehmer erfolgreich Berufung beim Obergericht. Die Arbeitgeberin wiederum wendet sich mit Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht.

Arbeitgeberin muss sich nicht ans Strafprozessrecht halten

Der gekündigte Arbeitnehmer kritisiert, dass die Arbeitgeberin ihn mit den Vorwürfen überrumpelt habe und er sich nicht genügend habe vorbereiten können. Während der Untersuchung habe er nicht erfahren, wer welche konkreten Vorwürfe gegen ihn erhoben habe. Die Arbeitgeberin habe damit seinen Anspruch auf das rechtliche Gehör verletzt.

Das Bundesgericht hingegen hält fest, dass nur die staatlichen Behörden an die strafprozessualen Grundsätze gebunden sind. Für die Parteien eines freiwillig eingegangenen Arbeitsvertrags gilt die Strafprozessordnung nicht, die Arbeitgeberin kann im Übrigen zwar kündigen, aber keine Strafen verhängen. Schliesslich ist die Identität der Person, die den Verdacht meldet, vertraulich zu behandeln und darf nicht der verdächtigten Person offengelegt werden.

Verdachtskündigung ist zulässig

Welche Kündigungsgründe missbräuchlich und damit unzulässig sind, umschreibt zum einen das OR. Zum anderen hat die Rechtsprechung auch andere Gründe zugelassen. Diese müssen aber in ihrer Schwere vergleichbar sein mit jenen, die das OR ausdrücklich auflistet. Auch ein «krass vertragswidriges Verhalten» kann dazu führen, dass ein Gericht eine Kündigung als missbräuchlich qualifiziert. Ein «bloss unanständiges, einem geordneten Geschäftsverkehr unwürdiges Verhalten» gilt demgegenüber nicht als Beleg für eine missbräuchliche Kündigung.

Eine Kündigung aufgrund von Anschuldigungen durch andere Mitarbeiter kann missbräuchlich sein, wenn die Arbeitgeberin die Vorwürfe nicht genügend abgeklärt hat. Das Bundesgericht stellt im konkreten Fall fest, dass das Unternehmen seine eigenen internen Richtlinien befolgt und die Vorwürfe sorgfältig geprüft hat. Es ist aufgrund dieser Abklärungen zum Schluss gekommen, dass die Aussagen des gekündigten Mitarbeiters wenig glaubhaft sind. Das Bundesgericht hält fest, dass eine Verdachtskündigung im vorliegenden Fall zulässig ist.

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Arbeitgeberin gut und hebt das angefochtene Urteil auf. Der gekündigte Arbeitnehmer erhält keine Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung und muss die Gerichtskosten in der Höhe von 4 000 CHF übernehmen sowie die Gegenpartei mit 5 500 CHF entschädigen.