Unterwegs

Gilt das Strassenverkehrsgesetz auch bei Radrennen?

Sofern die Polizei die Anwendbarkeit des SVG ausgeschlossen hat, gilt bei Überholmanövern die Pflicht zur besonderen Rücksichtnahme nicht.

Das Strassenverkehrsgesetz (SVG) schreibt vor, dass ein Verkehrsteilnehmer beim Überholen «besonders Rücksicht» nehmen muss. Hat die Polizei die Anwendbarkeit des SVG in der Bewilligung für ein Radrennen ausgeschlossen, gilt diese Sorgfaltspflicht weder direkt noch analog, wie das Bundesgericht mit Urteil vom 28. Januar 2019 bestätigt. (Siehe aber: «Wie schnell darf ich aus meiner Einfahrt fahren?»)

Radrennfahrer stirbt nach Überholmanöver

Die zuständige Kantonspolizei bewilligt ein Radrennen als sportliche Veranstaltung und schliesst die Anwendbarkeit des Strassenverkehrsgesetzes für die speziell abgesperrten und gesicherten Strassen aus. In diesem Radrennen schliesslich überholt ein Fahrer in der Abfahrt bei einer Fahrgeschwindigkeit von 70 km/h einen anderen Fahrer. Er kollidiert mit diesem, worauf dieser sowie weitere Fahrer stürzen. Einer der gestürzten Fahrer verstirbt infolge eines Schädel-Hirn-Traumas. Das Bezirksgericht verurteilt den Fahrer, der überholt hatte, der fahrlässigen Tötung sowie der mehrfachen fahrlässigen Körperverletzung. Das kantonale Obergericht spricht ihn frei, worauf die Erbengemeinschaft des tödlich verunfallten Fahrers, die verletzten Fahrer sowie die Oberstaatsanwaltschaft beim Bundesgericht Beschwerden in Strafsachen einlegen.

Auch Radrennfahrer darf nicht jedes Risiko eingehen

Der fahrlässigen Körperverletzung oder der fahrlässigen Tötung kann sich nur schuldig machen, wer eine Sorgfaltspflicht verletzt hat. Welches Mass an Sorgfalt vorgeschrieben ist, orientiert sich an den der Unfallverhütung und der Sicherheit dienenden Verhaltensvorschriften. Wie das Bundesgericht ausführt, kann aber nicht Ziel sein, «völlige Gefahrenfreiheit zu garantieren». Nach Prüfung der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung hat der beschuldigte Radfahrer keine Sorgfaltspflichten verletzt oder ein nicht mehr kalkulierbares Risiko geschaffen. Er hat sich namentlich weder aggressiv noch blindlings gefährdend verhalten.

Gebot der besonderen Rücksichtnahme gilt im Radrennsport nicht

Bei einem öffentlichen Radrennen kann die Polizei die Anwendbarkeit des SVG ausschliessen, was sie im vorliegenden Fall auch getan hat. Die Behörden können das SVG gleichwohl analog anwenden. Das Bundesgericht lehnt es aber namentlich ab, das im SVG verankerte Rücksichtsgebot bei Überholmanövern in Radrennen analog anzuwenden: «Es vermag den Gegebenheiten des Radrennsports nicht gerecht zu werden, von einem Radrennteilnehmer im Rahmen eines Überholmanövers dieselbe besondere Rücksichtnahme wie von einem regulären Strassenverkehrsteilnehmer zu erwarten».

Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab und auferlegt der Erbengemeinschaft sowie den verletzten Fahrern unter solidarischer Haftbarkeit Gerichtskosten von je CHF 3 000.

Aktualisiert am 13. Juni 2024